Bei Fachleuten gilt Oberschöneweide als „industriell geprägte Denkmallandschaft von bundesweiter Bedeutung”. Bis heute prägt das industrielle Erbe Berlins diesen Ort zwischen der Spree und dem Waldgebiet Wuhlheide. Lebensader ist die Wilhelminenhofstraße, die Oberschöneweide der Länge lang durchzieht. Auf der einen Seite wird sie von historischen Industriefassaden gesäumt. Direkt gegenüber liegen niedrige Mietshäuser mit Wohnungen und kleinen Geschäften. Der Aufstieg Schöneweides und damit die Geschichte der Wilhelminenhofstraße begann Ende des 19. Jahrhunderts, als die AEG unter der Leitung des Unternehmers Emil Rathenau auf der „schönen Weyde“ das erste Drehstromkraftwerk und gleich daneben ein eigenes Kabelwerk baute. Zwei Weltkriege hat die Straße relativ unbeschadet überstanden. Bomben fielen eher auf die hinteren Wohnhäuser, die Industrieanlagen sollten wohl nach dem Krieg von dann neuen Besitzern weitere Verwendung finden.
Es gibt viele Geschichten zur Wilhelminenhofstraße, die exemplarisch ein grelles Licht werfen auf die deutsche Geschichte: So wurden die zahlreichen Bierkneipen in den 30iger Jahren aufgeteilt zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und Nazis – bevor Zwangsarbeiter einquartiert wurden.
In der DDR galt die Wilhelminenhofstraße als bevorzugtes Einkaufsgebiet. Hier verdienten die Werktätigen gutes Geld, hier gab es Güter zu kaufen, die man sonst bestenfalls am Alex fand.

Ende der 60iger Jahre war der Kahlschlag des Wohnviertels geplant: Moderne Autostraßen und eine U-Bahn sollte das größte innerstädtische Industriegebiet der DDR mit den rund 25.000 Werksangehörigen besser anbinden. Doch statt Autobahnen bröckelte der Putz von den Fassaden. Investiert wurde nicht mehr, Öfen qualmten, Balkone stürzten ab.

Die Wilhelminenhofstraße und ihre Bewohner litten unter dem Krach und den Abgasen, die aus 16 gegenüberliegenden Schornsteinen Tag und Nacht selbst durch geschlossene Fenster eindrangen. Die Geschäfte im Erdgeschoss florierten, die Wohnungen leerten sich.

1992 spricht die Architekturzeitschrift Bauwelt dann von einem “Gebiet im Verfall”.

Die Großbetriebe wurden abgewickelt. Mit den Arbeitslosenzahlen stiegen auch die Wählerstimmen der NPD und neben alten Kneipen stapelten sich die Bierkisten in den schnell eröffneten Spätis..

Ab 1995 wurde die Straße durchgreifend saniert. Einige Baulücken sind über die Jahre durch Neubauten geschlossen worden. Mit dem Campus Wilhelminenhof entstand ab 2006 in den ehemaligen Industrieanlagen ein moderner Hochschulstandort. Die nun leeren Großbetriebe wurden weiterverkauft, Spekulanten warteten ab und verdienten Millionen.
Seit 2020 gibt es seriösere Planungen für die Industrieareale. Neue Investoren und euphorische Projektentwickler entwerfen umfangreiche Sanierungs- und Baukonzepte.

Der Berliner Senat hat Schöneweide als einen „Berliner Zukunftsort“ definiert. Auf der Wilhelminenhofstraße aber scheint sich die Zeit zu stauen. Nagelstudios, Import-Exportläden, Spätis und Imbisse – noch ist der Aufbruch nicht sichtbar.

Eine wachsende Ausstellung im Prozess, ein Experiment mit Bewohnern der Wilhelminenhofstraße. Im Transitraum zwischen Ostalgie, Alltag, Neugier sammeln wir Erinnerungen, Bilder, Informationen und Wünsche vor Ort auf der Wilhelminenhofstraße ein. Nach unseren Erfahrungen im Industriesalon, seit 12 Jahren vor Ort, ist die Zeit vorbei, in der die Bewohner*innen darauf brennen, uns ihre Geschichten zu erzählen und ihre Erinnerungen zu teilen. Darum möchten wir sie persönlich ansprechen und einen gezielten Austausch initiieren. In jedem einzelnen Haus werden wir die Bewohner*nnen von unserem Projekt informieren und an einem bestimmten Tag dort mit einem „Info-Mobil“ Position beziehen. Wir wünschen uns einen lebhaften Dialog – zeigen unser zusammengetragenes Material zu dem jeweiligen Haus, nehmen neue Geschichten und Ideen auf und wecken Interesse an der Ausstellung. So sollen auch museumsferne Nachbar*innen einbezogen werden. Im Industriesalon ist bereits umfangreiches Fotomaterial zu Schöneweide vorhanden. Dazu gehört eine nahezu vollständige Fotodokumentationen der gesamten Straße von 1962, 1989 und 1992. Eine neue Dokumentation 2022 soll erstellt werden. In diese Dokumentation fließen die Ergebnisse des Stadtlabors mit ein.

Wir suchen und sammeln Fotos, Geschichten über die Straße und freuen uns über jeden Beitrag, der unser Projekt bereichert.

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